Die No-Billag-Initiative ist weiss Gott nicht der erste radikale Vorschlag, mit dem sich die Schweiz befassen muss. Aber diese Volksinitiative entzieht bei einem Ja der SRG und einigen privaten Medien die Finanzierungsgrundlage. Das ist neu, schreibt Michael Hermann*.
Als sich das Automobil nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr zu einem Massenverkehrsmittel entwickelte, stellte dies die Zukunft der Eisenbahn radikal infrage. Der schienengebundene Verkehr hatte zwar einst der Industrialisierung zum Durchbruch verholfen. Doch warum sollten die teuren Schienennetze weiter mit Steuergeldern aufrechterhalten werden, wenn das Auto nun eine viel individuellere Mobilität ermöglichte?
Die meisten europäischen Länder und insbesondere die USA legten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grosse Teile ihres Eisenbahnnetzes still. Nur ein einziges westliches Land entzog sich damals fast gänzlich dieser immensen Wertvernichtung: Es war die Schweiz. Mit ihrer gebirgigen Topografie stieg sie im 19. Jahrhundert vergleichsweise spät in den Eisenbahnboom ein, doch wie kein anderes Land pflegte sie ihre einmal errichtete Infrastruktur.
Nur dem achtsamen Umgang mit bestehenden Werten ist es zu verdanken, dass die Schweiz bis heute ein einzigartig verästeltes öffentliches Verkehrssystem kennt. Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts im übrigen Europa eine Renaissance des Schienenverkehrs einsetzte, wurde nämlich offensichtlich, dass der Wiederaufbau einer Grundversorgung bis in abgelegene Regionen hinein nicht mehr finanzierbar war.
Langsam und sorgsam mahlende politische Mühlen gehören zu den Standortqualitäten der Schweiz. Zugleich stürzt sich dieses Land immer wieder kopfvoran und nicht selten vor allen anderen Nationen in heftigste politische Grundsatzdebatten. Das war bei der Migrationsund Europafrage so, und es ist nun bei der Debatte zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht anders.
Das Instrument der Volksinitiative verleiht unserem System eine revolutionäre Komponente. Nur in der Schweiz können politische Aussenseiter, die alleine über einen guten politischen Riecher verfügen, gegen den Willen des politischen Establishments eine Grundsatzdebatte erzwingen. Das jüngste Beispiel dafür sind die libertären Initianten von No Billag.
Allerdings zeigt die schweizerische Erfahrung auch, dass selbst revolutionär anmutende Abstimmungsentscheide wie das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative in ein abfederndes System eingebettet sind. Wer mag es da den Stimmberechtigten verargen, wenn sie bei der No-Billag-Initiative genau dieselbe Wirkungsweise vermuten? Es bestehen keine Zweifel, dass Bundesrat und Parlament auch bei einem Ja versuchen würden, bei der SRG zu retten, was noch zu retten ist. Und dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zu allen bisherigen Volksinitiativen mit Erfolgschancen: Bei der No-Billag-Vorlage geht es erstmals um den Entzug der Finanzierungsgrundlage einer bestehenden Infrastruktur.
Das typische parlamentarische Aussitzen und Abdämpfen vermag sehr wohl die Tragweite von Vorlagen wie der Masseneinwanderungsinitiative einzugrenzen. Im Fall der SRG liesse sich eine substanzielle Wertvernichtung jedoch nur mit raschem, koordiniertem Handeln verhindern. Genau dies überfordert jedoch die langsam mahlenden Mühlen der schweizerischen Politik – erst recht, wenn dabei die Kantone mit einbezogen werden müssen. Nicht von ungefähr hat die Schweiz seit über 20 Jahren keine Rentenreform mehr zustande gebracht.
Die Geschichte der Eisenbahninfrastruktur mitsamt Rückbau und Renaissance zeigt die zentrale Bedeutung der Langfristperspektive bei öffentlichen Infrastrukturen. Was einmal kaputtgemacht worden ist, lässt sich kaum wiederherstellen. Ein anderes Beispiel sind die öffentlichen Schulen, die – einmal vernachlässigt wie etwa in den USA – kaum wieder aufzuholen vermögen.
Es ist durchaus schweizerisch, wenn die selbstbewusste Basis über die Qualität einzelner Fernsehsendungen und auch über die Zukunft öffentlicher Medien mitreden will und kann. Falls sich die Schweiz jedoch mit einem Ja zu No Billag zur zweifelhaften europäischen Avantgarde im Untergraben des öffentlichen Mediensystems aufschwingt, hat sie erstaunlich wenig aus ihrer Erfolgsgeschichte gelernt. Schwer vorstellbar, dass ausgerechnet dieses Land ohne echte Not seinem sorgsam gepflegten, regional fein verästelten öffentlichen Infrastruktursystem ein wesentliches Element wegschlagen will.
* Dieser Beitrag von Michael Hermann ist zuerst in «Der Bund» und «Tages-Anzeiger» erschienen, darf aber mit der Erlaubnis des Autoren hier aufscheinen.