Die «Nordwestschweiz» bzw. «Aargauer Zeitung» hat mit Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands und FDP-Nationalrat, ein Interview über die No Billag-Initiative geführt. Bigler und sein Verband befürworten die Initiative und damit die Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren. Bigler behauptet im Interview, die SRG könne ohne Radio- und Fernsehgebühren überleben, ja, sie sei dann sogar unabhängiger. Im Interview gibt er unwidersprochen Antworten, die so fern jeder medienökonomischer Realität sind, dass ich Bigler widersprechen muss. Sie finden deshalb hier die sieben Märchen des Hans-Ulrich Bigler und meine Antworten darauf.
1) Die Mär von der SRG ohne Gebühren
Bigler: Ein Ja zu No Billag ist eine Chance für eine unabhängige SRG ohne Billag-Abzocke.
Fakt ist: Die SRG finanziert sich zu rund 75 Prozent mit Gebührengeldern. Weitere 14 Prozent des Budgets stammen aus TV-Werbung, 3 Prozent aus Sponsoring. Siehe hier. Ohne Gebühreneinnahmen müsste die SRG über eine Milliarde Franken pro Jahr über Werbung und allenfalls über Pay-TV-Angebote einholen. Das ist a) nicht möglich und würde b) die SRG in grossem Masse von wirtschaftlichen Einzelinteressen abhängig machen. Wenn Bigler von einer ohne Gebühren finanzierten SRG redet, meint er wahrscheinlich ein viel kleineres Angebot. Er folgt dabei der neoliberalen Logik, dass nur der Markt das richtige Angebot bereitstellen kann. Er vergisst dabei, dass die Schweiz zu klein ist, um als Medienmarkt wirklich funktionieren zu können. Dies unter anderem deshalb, weil der Anteil der ausländischen Sender in der Schweiz schon heute über 60 Prozent beträgt und ohne SRG noch grösser würde. Siehe dazu unten Antwort auf Mär 5. Kurz: Bigler behauptet, die Schweizer könnten den Fünfer behalten und das Weggli trotzdem kriegen, verschweigt aber, dass das Weggli dabei auf ein paar Brösmeli reduziert werden müsste.
2) Die Mär vom Service Public ohne Gebühren
Bigler: Ein Service public ist auch ohne Abzocke und staatlichen Zwang möglich.
Fakt ist: Service public im Sinne einer öffentlichen Grundversorgung ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber Grundregeln erlässt, die den Service public entsprechend verankern. Siehe etwa hier. Das klassische Beispiel sind die SBB: Einer privaten Organisation käme es nicht in den Sinn, abgelegene Orte auch zu Randzeiten gleich günstig zu bedienen wie eine Grossstadt. Der Service public ist deshalb der Stachel im Fleisch des freien Marktes. Klar, dass das Gewerbedirektor Bigler sticht. Aber er spricht nicht im Sinne der Allgemeinheit, wenn er behauptet, ein medialer Service public sei ohne obligatorische Gebühren finanzierbar. Das ist ja der Witz am Service public: Alle bezahlen gleich viel, damit auch Randregionen und Benachteiligte in den Genuss einer Grundversorgung kommen können. Das ist dann eben nicht Abzocke, sondern Solidarität.
3) Die Mär von der SRG, die die Bürger abzockt und nicht mit den Verlegern zusammenarbeitet
Was Bigler sagt: Eine unabhängige SRG, die mit den privaten Medien ehrlich zusammenarbeitet und die Bürger nicht abzockt, stärkt die Medienvielfalt und den Service public.
Fakt ist: Die SRG arbeitet schon länger mit den Verlegern zusammen. Es ist eher umgekehrt: Die Verleger kochen alle ihr privates Fernsehsüppchen und erhoffen sich vom Untergang der SRG bessere Geschäfte. Das ist absurd. Müsste sich die SRG auf dem freien Markt durch Werbung finanzieren, wären die kleinen TV-Stationen die ersten, die darunter leiden würden. Denn der Fernseh-Werbemarkt ist keineswegs beliebig gross. Die Werbeminuten zwischen 18 und 22.30 Uhr sind ausgebucht, alle anderen Zeiten sind nicht interessant. Darauf hat Werbespezialist Ueli Custer zum Beispiel hier hingewiesen. Dazu kommt: Auch die Fernsehwerbung ist unter Druck. Zeitversetztes Fernsehen (per App oder per Netzwerkangebot) macht es möglich, die Werbung zu überspringen. Dem Zuschauer ist kaum mehr Werbung zuzumuten.
Ach ja, und dann noch der eingeschmuggelte Abzocke-Vorwurf: Die Bürger werden abgezockt, heisst wohl: Sie müssen viel zu viel bezahlen. Weil alle Bürger und das Gewerbe gleichermassen bezahlen, wird die Leistung für den Einzelnen bezahlbar. Müsste jeder nur das bezahlen, was er konsumiert, wäre das Angebot für viele Menschen unbezahlbar teuer. Bei UPC kostet der allein der Sportzusatz mit verschiedenen Eishockey-Ligen, internationalem Fussball, Handball, Basketball, Beachvolleyball und Formula E 25 Franken im Monat. Das sind 300 Franken im Jahr, fast so viel wie die Radio- und Fernsehgebühr. Diesen Sportzusatz gibt es aber nur als Ergänzung zu einem Basisabo, das mindestens 89 Franken pro Monat kostet. Siehe hier.
4) Die Mär von der unkontrollierten SRG
Bigler: Die SRG-Chefs geben heute ohne parlamentarische Kontrolle und am Souverän vorbei über 1,2 Milliarden Franken Steuergelder quasi mit einem Blanko-Check aus.
Fakt ist: Erstens hat das Volk am 14. Juni 2015 genau das Gebührenmodell in einer Volksabstimmung angenommen (siehe etwa hier) und zweitens handelt die SRG keineswegs ausserhalb jeglicher Kontrolle. Es gibt eben jenes RTVG, das die Vergabe der Gebühren an Konditionen knüpft. Die SRG ist ein Verein, der nach den Grundsätzen des Aktienrechts geführt wird. Der Verein hat vier Mitglieder: Er besteht aus den vier Regionalgesellschaften: SRG Deutschschweiz (SRG.D), Société de radiodiffusion et de télévision de la Suisse romande (RTSR), Società cooperativa per la Radiotelevisione svizzera di lingua italiana (Corsi), SRG SSR Svizra Rumantscha (SRG.R). Der Verein hat dafür zu sorgen, dass der gesetzliche und konzessionsrechtliche Leistungsauftrag erbracht wird. (Siehe hier.)
Die SRG-Regionalgesellschaften bestehen ihrerseits aus SRG-Regionen. So besteht die SRG Deutschschweiz aus sechs Regionen (siehe hier), die ihrerseits jeweils Vereine oder Genossenschaften sind. Wer möchte, kann bei der SRG Region Basel, der SRG Zürich Schaffhausen oder der SRG Zentralschweiz Mitglied werden und auf diese Weise die SRG mitbestimmen. Von Blanko-Check, wie Bigler es behauptet, keine Spur. Die SRG ist föderal aufgestellt und in der Bevölkerung breit verankert.
5) Die Mär von der SRG, die auf Kosten der Verleger expandiert
Bigler: Die SRG führt mit den Milliarden, die sie bisher über Gebühren und neu mit einer Steuer eintreibt, eine aggressive Expansionsstrategie. Sie geht auf Kosten der Zeitungen und der anderen privaten Medien.
Fakt ist: Hauptkonkurrenz der Fernsehsender der SRG sind nicht die kleinen, privaten TV-Angebote der Verleger, sondern die grossen ausländischen Stationen. Herr Bigler tut so, als ob der Schweizer Medienmarkt an der Landesgrenze aufhören würde. Die SRG-Sender haben in der Deutschschweiz lediglich einen Marktanteil von 31% (Quelle siehe hier).
Der Marktanteil der öffentlich-rechtlichen Sender in der Schweiz liegt im europäischen Vergleich im Mittelfeld. In der folgenden Grafik sind die Marktanteile der SRG in der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin rot eingefärbt, die Marktanteile der öffentlich-rechtlichen Sender in den anderen europäischen Ländern blau. Quelle: Bundesamt für Statistik.
Am höchsten ist der Marktanteil mit 68.6 Prozent in Dänemark. In unseren Nachbarländern liegt er in Deutschland (43.9 Prozent) und Italien (39.6 Prozent) deutlich höher, in Frankreich mit 30.8 Prozent gleich hoch. Die Zahlen beweisen: Es ist ein Märchen, dass die SRG die Privaten unterdrückt. Anders als in Deutschland und Frankreich teilen sich die verbleibenden etwa 60 Prozent des Marktes aber nicht private Konkurrenten, sondern ausländische TV-Sender. Deren Marktanteil würde bei einer Zerschlagung der SRG nicht kleiner werden, im Gegenteil.
6) Die Mär von der schädlichen Vermarktungsfirma
Bigler: Admeira steht exemplarisch für diese schädliche Entwicklung. ... Der Ringier-Konzern ist neben der SRG und dem bundesnahen Betrieb Swisscom der dritte Player im exklusiven und für die Medienvielfalt schädlichen Vermarktungsklub Admeira. Da sind wohl auch Parteiinteressen dabei.
Fakt ist: Die Vermarktung von Onlinewerbung in der Schweiz wird dominiert von Google und Facebook. Die beiden Firmen verfügen über individualisierte Kundendaten und sind in der Lage, jedem Benutzer exakt die Werbung auszuspielen, die seinen Bedürfnissen entspricht. Der junge Familienvater sieht Windelwerbung, der Pensionär die Werbung für den Gebissreiniger. Reisewillige sehen Kreuzfahrtwerbung, wer gerade eine Ferienwohnung in Portugal sucht, sieht entsprechende Onlineanzeigen. Schweizer Vermarktungsfirmen, und seien sie noch so gross, können den beiden Grossfirmen kaum etwas entgegenhalten. Als Antwort auf die hochtechnisierte Konkurrenz aus dem Silicon Valleys haben Ringier, Swisscom und SRG eine gemeinsame Werbe-Vermarktungsfirma. Den Firmen daraus einen Vorwurf zu machen, ist absurd. Das Gegenteil ist der Fall: Man müsste der SRG einen Vorwurf machen, wenn sie glauben würde, man könne 2018 noch Werbung verkaufen wie anno dazumal.
7) Die Mär von der Onlinekonkurrenz durch die SRG
Bigler: Die SRG drängt heute, obwohl ihr das nicht gestattet wäre, sehr offensiv in den gerade für die Zeitungsverlage sehr wichtigen Online-Bereich. Die Verlage werden von der SRG konkurrenziert und ausgebremst. Das wirkt sich negativ auf die Medienvielfalt aus.
Fakt ist: Die Onlineangebote der Zeitungsverlage haben weit mehr Besucher als die Onlineangebote der SRG. Schauen Sie sich die Zugriffsstatistik der grossen Schweizer Websites von Net-Metrix an, siehe hier: https://netreport.net-metrix.ch/traffic/
Die aktuellen Zahlen (November 2017) belegen folgende Rangliste: Auf Platz eins mit knapp 87 Millionen Visits befindet sich «20Minuten» (deutsch), gefolgt von «Blick online» und sbb.ch. Das gesamte Angebot von SRF zusammengenommen belegt Platz vier. Von Dominanz kann keine Rede sein. Google und Facebook übrigens tauchen in der Statistik nicht auf – neben den beiden Giganten wirken auch «20 Minuten» und «Blick» wie Zwerge. Bigler sollte sich nicht über die SRG aufregen, sondern über die Dominanz amerikanischer Grosskonzerne in der Schweiz.
Ach ja, noch zum Hauptvorwurf von Bigler, die Führung der SRG weigere sich, über einen Plan B nachzudenken, das sei «sehr bedenklich. Das kommt einer Arbeitsverweigerung und der Erpressung des Volkes nahe.» Die Initiative verbietet das Einziehen von Gebühren. Ohne Gebühren kann aber der gebührenfinanzierte, öffentliche Rundfunk nicht existieren. Ende der Durchsage.
Matthias Zehnder hat uns freundlicherweise erlaubt, diesen Beitrag hier zu veröffentlichen. Zuerst ist er auf seinem persönlichen Blog erschienen. Zehnders aktuelles Buch: «Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen». Zytglogge, 2017. Mehr Informationen gibt es hier: http://www.aufmerksamkeitsfalle.ch